Venedig 1994

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man den Canal Grande nur mit dem Boot überqueren oder die einzige Brücke nehmen,
die sich über den breiten Wasserweg spannte. Die Rede ist von der berühmten Rialtobrücke, die Ende des 16. Jahrhunderts für die astronomische Summe von 250 000 Dukaten errichtet wurde. Im Lauf des 20. Jahrhunderts fügte man die Accademia und die Scalzi-Brücke hinzu. Und schon bald wird sich eine weitere, futuristische Brücke aus Glas, Stahl und Stein aus Istrien dazugesellen, ein Entwurf des spanischen Architekten Santiago Calatrava, die den Piazzale Roma mit dem Bahnhof verbinden wird. So wandelte sich Venedig von der Handelsstadt, deren Geschäfte sich entlang der Kanäle aufreihten, zur Stadt des Tourismus, die jedes Jahr Millionen von Besuchern anlockt. Um diesem wichtigsten Wirtschaftszweig Venedigs Genüge zu leisten wurde auch ein neuer Flughafen nach den Entwürfen des genialen amerikanischen Architekten Frank O. Gehry errichtet, von dem aus Boote direkt in die Stadt fahren werden.

Mit 270 000 Einwohnern ist Venedig nach modernen Maßstäben eine eher kleine Stadt. In seiner tausendjährigen Geschichte gibt es jedoch Zeiten, in denen es den gesamten Mittelmeerraum beherrschte und Inseln, Häfen oder auch Städte des Östlichen Römischen Reiches eroberte. Die hohen Profite, die Venedig bereits im 9. Jahrhundert durch den Handel mit dem Morgenland erzielte, füllte die Geldbeutel der Adeligen, die sich wiederum als Förderer der zahlreichen Kunstschulen hervortaten. Venedigs Goldenes Zeitalter kennzeichnen Maler wie Carpaccio, Giorgione, Paolo Veronese, Tizian und Tintoretto, aber auch Architekten, Bildhauer und Steinmetze, denen La Serenissima ihre ewig währende Schönheit verdankt.

Venedig versprüht einen unwiderstehlichen Charme. Das Herz der Altstadt bildet der Markusdom, der 1094 erbaut wurde, um die
Reliquien des Heiligen aufzunehmen. Rundherum erstrecken sich die Bogengänge der Prokuratie, in denen die Büros der neun Prokuratoren von San Marco untergebracht waren. Zwischen dem Markusplatz und dem Riva degli Schiavoni liegt der Dogenpalast,
der viele Jahrhunderte lang die Residenz des Dogen und der Regierung war. Die Skyline Venedigs dominiert der Campanile, der
nach seinem Einsturz am 14. Juli 1902 wieder aufgebaut wurde.

Was die Stadt so einzigartig macht, ist die erstaunliche Harmonie in Venedigs architektonischem Gesamtbild. Um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, genügt eine Fahrt auf dem Canal Grande. Man startet an der Santa Maria della Salute, betrachtet die Silhouetten der opulenten Adelspaläste, vom Palazzo Belloni-Battaglia bis zum Palazzo Marcello, in dem der Komponist Marcello geboren wurde, und vom Palazzo Vendramin Calergi über Ca’Foscari, in dem heute die Universität untergebracht ist, weiter zu Ca’Dario und dem Palazzo Grassi. Direkt dahinter lassen sich die Umrisse der Kirchen Venedigs ausmachen, darunter Santa Maria dei Frari, San Rocco und Sant’Eustachio, in denen sich Kunstwerke von Tizian, Donatello, Tiepolo und Tintoretto befinden.

Auch wenn die ruhmreichen Jahre Venedigs der Vergangenheit angehören, ist die Stadt ein kulturelles Zentrum mit weltberühmten Ereignissen, wie dem Filmfestival oder der Biennale für Kunst und Architektur. Und mit Abschluss der Renovierungs arbeiten an La Fenice – einem Theater, das 1996 abbrannte -hat auch die Oper in Venedig wieder eine Heimat gefunden.

Venedig ist eine einzigartige Stadt und all die Anstrengungen, die unternommen wurden, um ihr unschätzbar wertvolles Erbe zu erhalten, lassen sich nicht mehr zählen. Mittlerweile nimmt bereits die ganze Welt Anteil an dem äußerst schwierigen ,,Projekt Venedig“. Seit einigen Dekaden kommt es immer öfter zu Überschwemmungen und Hochwasser. Falls die Vorhersagen bezüglich der globalen Erwärmung eintreffen, könnte Venedig schon Mitte des 21. Jahrhunderts bis zu hundert Mal pro Jahr unter Wasser stehen. Aus diesem Grund sind die wichtigsten und ambitioniertesten architektonischen Arbeiten in Venedig auch nicht sichtbar: Das Projekt Mose, ein System aus mobilen Fluttoren auf dem Grund der Lagune, soll das Acqua alta, das Hochwasser, in Zukunft an den drei Zugängen zum Mittelmeer (Chioggia, Lido und Malamocco) aussperren. Sobald das Wasser über einen bestimmten Pegel steigt, werden die Tore aufgerichtet und bilden eine Barriere zwischen den Adriawellen und den kostbaren Schätzen in der Lagune.

Venedig 1997

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