England 2006

England 2006, Canterbury und London

Zwanzig Pfund Einritt? Da gebe ich das Geld ja lieber meiner Schwiegermutter!“ Dies ist nur eine von vielen Antworten aus einer
offiziellen Befragung der Londoner zu ihrer Meinung über den Millennium Dome. Zur Feier der Jahrtausendwende gab die britische Hauptstadt 839 Millionen Pfund (etwa 200 Mio. Euro) für eine 30 Meter hohe Glasfiberkuppel mit einem Durchmesser von 320 Metern aus, die auf der Halbinsel Greenwich, im Osten Londons errichtet wurde. Hier wurde eine Ausstellung zum Thema Zukunft untergebracht, für die die Stadtverwaltung extra ein neues Wort erfand: ,,Edutainment“, eine Zusammenziehung von education (Lernen) und entertainment (Unterhaltung).

Der Millennium Dome sollte das neue“ London symbolisieren, doch als die Besucherzahlen weit unter den Erwartungen blieben, musste sich Bürgermeister Ken Livingston harsche Kritik gefallen lassen, weil er in einer Zeit, als in London durch die explodierenden Bevölkerungszahlen neue Wohngebiete dringender nötig waren denn je, den Bau dieses Unterhaltungsprojekts
in Greenwich bevorzugte. Mittlerweile sind die Städteplaner schon am Werk, um diese Extravaganz bis zum geplanten Abriss
im Jahr 2025 doch noch in ein rentables Objekt zu verwandeln.

Abgesehen davon bewerkstelligte London den Eintritt ins 21, Jahrhundert auf hervorragende Weise, nicht zuletzt dank der herausragenden architektonischen Werke, die aus der Stadt. eine der bedeutendsten Metropolen Europas machen. In der Nähe der Waterloo Bridge befindet sich das London Eye, das größte Riesenrad der Welt. Das Hafengebiet Canary Wharf mauserte sich zum lebhaften Geschäftsviertel. Es gibt viele weitere bemerkenswerte neue Bauten renommierter Architekten wie Sir Norman Foster, Skidmore Owings & Merrill, Kohn Pederse Fox, I.M. Pei oder Cesar Pelli, der 1991 den Canada Tower, da höchste Gebäude im Vereinigten Königreich, entwarf.

Die neue City Hall (das Rathaus) steht ebenfalls direkt am Fluss, gegenüber vom Tower. Das Bauwerk erinnert an eine gläserne Blase und ist eine Metapher für die Transparenz der Demokratie. Der Entwurf stammt von Sir Norman Foster, der auch der City seinen Stempel aufgedrückt hat. Im Finanzviertel steht sein Swiss Re Tower, ein zigarrenförmiges Hochhaus mit einer 24 000 m² großen Fassade aus Glasplatten, die in der Form von Diamantfacetten angeordnet sind. Im Jahr 2010 wird auch Renzo Pianos London Bridge Tower fertig sein, ein 306 Meter hoher Gigant aus Glas. Bis dahin sind die einzigen Konkurrenten des Swiss Re Towers das Lloyd Building von Richard Rogers (1986) sowie zwei Meisterwerke aus dem 17. Jahrhundert: The Monument, die höchste Steinsäule der Welt, und St. Paul’s Cathedral, ein Schmuckstück des britischen Barock. Beide Werke sind Entwürfe von Christopher Wren. Er baute London 1666 neu auf, nachdem bei einem verheerenden Feuer 87 Kirchen und 15 000 Wohnhäuser vernichtet worden waren. Obwohl das Große Feuer einen entscheidenden Wendepunkt im Straßenbild Londons markiert, verdankt die Stadt ihren Charme nach wie vor ihren vielen historischen Schichten. Erst seit kurzem kämpfen die Mitglieder der English Heritage Association, unterstützt vom britischen Thronerben Prinz Charles, mit allen Mitteln gegen die Errichtung neuer Hochhäuser, die Londons Skyline verschandeln würden. Trotzdem ist es gerade auch der Kontrast zwischen traditioneller und visionärer neuer Architektur, der diese riesige Metropole mit ihren acht Millionen Einwohnern so überraschend macht.

Die Römer waren die eigentlichen Gründer Londons. Im Jahr 45 n.Chr. errichteten sie nämlich ein Militärlager namens Londinium am Ufer der Themse, und zwar genau dort, wo sich heute die City (Londons Finanzviertel) befindet. Diese kleine militärische Siedlung entwickelte sich schnell zu einer blühen den Stadt, die bis 410 unter römischer Herrschaft stand. Danach folgte eine Periode des Niedergangs, bis die germanischen Angelsachsen, die England seinen Namen und seine Sprache gaben, im 8. Jh. den Grundstein für die kulturelle Weiterentwicklung Londons legten und die Stadt wieder an Bedeutung gewann. Als Wilhelm der Eroberer und seine Normannen im Jahr 1066 dort ankamen, fanden sie eine lebhafte Stadt vor, die sie als ,,Markt der Welt“ bezeichneten. Wilhelm der Eroberer gab ein paar prachtvolle Monumente in Auftrag, darunter den Tower of London. Mehr als einmal bildete diese imposante Festung den Hintergrund für wichtige Ereignisse der englischen Geschichte (inklusive unzähliger
Gerichtsverhandlungen und Exekutionen). Heute beherbergt sie die unschätzbar wertvollen Kronjuwelen. Auch für die Westminster Abbey und den Westminster Palace wurden zu jener Zeit die Grundsteine gelegt. Diese beiden benachbarten Gebäudekomplexe haben eine bewegte Geschichte. Die Abtei, in der die Krönungszeremonie der englischen Monarchen statt findet, wurde bei einem Brand im Jahr 1298 komplett zerstört. Im 16. Jh. errichtete man daher ein neues Gebäude in kühnem gotischem Stil, das in der darauf folgenden Zeit immer wieder umgebaut wurde. Westminster Palace dagegen war bis 1512 die königliche Residenz und ist heute Sitz des Parlamentes. Auch er wurde mehrmals ein Opfer der Flammen, bis er im 19. Jh. komplett im neogotischen Stil erneuert wurde, damit er nach wie vor zu Westminster Abbey passt. Der Glockenturm Big Ben, der ebenfalls zu den Westminstergebäuden gehört, stammt aus dem Jahr 1859 und avancierte schnell zum Wahrzeichen Londons.

Im 16. Jahrhundert. wurde London zunächst unter König Heinrich VIII. (der mit der katholischen Kirche brach) und dann unter seiner Tochter Elizabeth I. (der Initiatorin britischer Kolonialbestrebungen) zur größten Stadt Europas, die über 200 000 Einwohner zählte. Anfang des 18. Jahrhunderts begann die Stadt auch Einwanderer anzulocken, sodass ihre Bevölkerung auf 750 000 Menschen anwuchs. Im Jahr 1801 überschritt sie die Millionengrenze. Durch die industrielle Revolution wurde London die größte und mächtigste Stadt der Welt. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit von Königin Viktoria, war aus London die Hauptstadt eines der mächtigsten Reiche der Geschichte geworden. Die bekanntesten Monumente der Stadt erlauben dem Besucher einen Blick auf Londons schillernde Vergangenheit. Die Plätze vom Trafalgar Square bis Piccadilly Circus – legen Zeugnis ab über militärische und politische Triumphe. Die eleganten Wohnhäuser reflektieren den Wohlstand ihrer ehemaligen Besitzer, Londons Museen – angefangen vom riesigen British Museum (einem der ältesten öffentlichen Museen der Welt) bis hin zur National Gallery – und seine herrlichen Parks
sind der Liebe seiner Bewohner zu Bildung, Kunst und Natur zu verdanken. Die Wunder des Ingenieurswesens, wie z. B. die außer
gewöhnliche Tower Bridge von 1894, die massiven Docks und die vielen mechanischen Geheimnisse im Science Museum, sind
ein Beweis für den Hang der Briten zu allen Wissenschaften. Auch wenn London sich zahlloser Schätze rühmt – vom königlichen Buckingham Palace über immer größer werdende Ausstellungsorte wie dem Victoria & Albert Museum (zu dem bald auch der visionäre Anbau von Daniel Liebeskind gehören wird), bis hin zur Tate Gallery of Modern Art, die von den Schweizer Architekten Herzog & De Meuron entworfen wurde, wird man dieser Metropole nicht gerecht, wenn man die weniger bekannten Ecken missachtet: Londons Märkte, seine Modemacher und die eigene Persönlichkeit, die jeder Stadtteil mit den vielen unterschiedlichen Kulturen besitzt, die dort leben. Die Zeiten, in denen London die Welt beherrschte, sind vorüber. Aber das heutige London, mit all seinen Widersprüchen, seinen Erfindungen und seinen nostalgischen Erinnerungen, istdas Resultat jener Ära. Im Jahr 1995 weihte Londons indische Gemeinde im Stadtteil Neasden, in der Nähe des Wembley Stadions, den Shri Swaminarayan Mandir ein, den größten Hindutempel des 20. Jahrhunderts. Welch schönes Symbol für die umgekehrte Kolonialisierung“ der Stadt durch Einwanderer aus der einst wichtigsten Kolonie des britischen Empires.