Genscher UN New York

New York, 27. September 1989 UN Vollversammlung.

Obwohl gerade erst von einem Herzinfarkt genesen, wollte Genscher gegen den Rat seiner Ärzte unbedingt dort hin. Eine ideale Gelegenheit für den Außenminister, mit seinen Amtskollegen aus der Sowjetunion, der DDR und der Tschechoslowakei über die immer dramatischer werdende Situation in den Botschaften zu sprechen. 

Am 27. September, einem Mittwoch, ißt Genscher mit seinem Ost Berliner Amtskollegen Oskar Fischer zu Abend. Er macht zwei Vorschläge: DDR Beamte erteilen Ausreisegenehmigungen und stempeln die Pässe in den Botschaften ab. Variante zwei: Die DDR Bürger reisen in Zügen über ostdeutsches Gebiet in den Westen. Fischer will darüber am Wochenende Honecker informieren. Zu spät, sagt Genscher.

28. September
Einen Tag später telefonieren Genscher und Fischer erneut. In den Botschaftsgebäuden, vor allem in Prag, werden die hygienischen Zustände immer unerträglicher. Fischer verspricht, Genschers Vorschläge nach Ost Berlin weiterzuleiten. Auch der tschechoslowakische Außenminister Johanes wird von Genscher in New York aufgesucht. Doch der bleibt unverbindlich.

Am Nachmittag bittet Genscher um ein persönliches Gespräch mit Eduard Schewardnadse, dem sowjetischen Außenminister. Er möge in sein Hotel kommen, wird ihm zurückgemeldet. Doch Genscher steht kein Wagen zur Verfügung. Genschers Mitarbeiter wendet sich an einen Polizisten. Das sei Herr Genscher, der deutsche Außenminister. Das beeindruckte den Polizisten aber kaum. Dann ein letzter Versuch, es handele sich um die Flüchtlinge in der Prager Botschaft, dort seien auch viele Kinder dabei. Das wirkt: Ein New Yorker Polizeiwagen bringt den Deutschen dann mit Blaulicht und Sirene zu Schewardnadse. Genscher im O-Ton: stellen Sie sich das einmal vor, der deutsche Außenminister wird mit Blaulicht zum russischen gefahren.

Dort angekommen, schildert Genscher die chaotischen Zustände in den Botschaften. Schewardnadse fragt: „Sind Kinder dabei?“ Genscher: „Viele“. Darauf der Sowjet: „Ich helfe Ihnen“.

Noch am gleichen Abend sichert sich Genscher die Unterstützung der amerikanischen und französischen Außenminister Baker und Dumas.

29. September
Genscher ist auf dem Weg zum Flughafen, da erreicht ihn ein Anruf im Auftrag des DDR Außenministers. Es gebe wichtige Informationen am Tag darauf in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn für ihn. „Es lohne sich immer“, so lässt der Anrufer vom Ost Berliner Außenminister Oskar Fischer ausrichten, „mit ihm zu sprechen.“

30. September
Im Bonner Kanzleramt erfahren Genscher und Rudolf Seiters, der bundesdeutsche Innenminister, dass sich Ost Berlin für die zweite Variante entscheiden hat: Zugfahrt der Ausreisewilligen durch die DDR. Genscher legt nach und fordert hochkarätige Zugbegleitung als vertrauensbildende Maßnahme für die DDR Bürger.

„Die Flüchtlinge vertrauen Ihnen nicht“, sagt er dem Ständigen Vertreter Ost Berlins in Bonn, Horst Neubauer. Genscher und Seiters wollen selbst mitfahren. Ost Berlins Mann in Bonn muss noch einmal bei seiner Regierung nachfragen. Wenig später liegt die Genehmigung vor. Kurz vor dem Start Genschers und Seiters‘ Richtung Prag meldet sich Neubauer und widerruft die Zusage Ost Berlins in Teilen. Genscher und Seiters dürfen nicht mitreisen. Der Druck steigt.

Palais Lobkowitz, deutsche Botschaft in Prag: Showdown um 18.58 Uhr

In der Bonner Botschaft in Prag angekommen, nimmt Genscher erneut Kontakt mit Neubauer auf. Es bleibt beim Nein Ost Berlins. Nur zwei bundesdeutsche Beamte dürfen pro Zug mitreisen.

Um 18.58 Uhr tritt Genscher auf den Botschaftsbalkon und spricht den wohl berühmtesten Halbsatz der jüngeren deutschen Geschichte: „Liebe Landsleute, wir sind zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise…“ Der Rest geht im Jubel unter.

Um 19.30 Uhr verlassen die ersten die Botschaft. Schon drei Minuten zuvor hatte die staatliche Nachrichtenagentur der DDR, ADN, eine Erklärung des OstBerliner Außenministeriums verbreitet. Man habe veranlasst, die sich rechtswidrig in den Botschaften der BRD aufhaltenden Personen aus humanitären Gründen auszuweisen. Um 20.50 Uhr verlässt der erste Reichsbahnzug Prag Richtung Dresden. Vier weitere Züge folgen im Zweistundentakt. Ziel ist das bayerische Hof.

Bahnhof Hof, Gleis 8, 1. Oktober
Es ist 6.14 Uhr als die ersten 1.200 Ostdeutschen im bayerischsächsischen Grenzort Hof auf Gleis 8 ankommen, darunter viele Kinder. Rund 6.000 Menschen erreichen an diesem 1. Oktober Hof. Sie alle kommen ohne Pässe. Die hatten ihnen DDR Beamte im Zug abgenommen. Heerscharen von Helfern und Journalisten erwarten sie. Ein paar Tausend DDR Bürger hatten ihren Staat vorgeführt. Eine Abstimmung mit den Füßen. Sechs Wochen später fiel die Mauer. „Die Stunden in der deutschen Botschaft in Prag gehören, so Hans Dietrich Genscher im Rückblick, „zu den bewegendsten meines Lebens…wir hatten pure Gänsehaut.“